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Luggi, der Lügner und das Flüstern vom Dreiländerstein

Wenn du jemals im Reschnerhof am Stammtisch gesessen bist, kennst du ihn vielleicht – oder zumindest seine Geschichten: Luggi.

Ein drahtiger, wettergegerbter Mann soll er gewesen sein, mit Augen so spitz wie seine Geschichten – und einem Mundwerk, das nie stillstand. Manche sagen, er war ein Lügner. Andere sagen, er war mehr. Heute ist nur eines sicher: Luggi ist nicht mehr da. Aber seine Geschichten sind geblieben.

Und eine davon bringt selbst den wildesten Après-Ski zum Schweigen:
Die Geschichte vom Dreiländerstein.

„Es gibt dort oben a Kammer,“ sagte er immer,
„gleich unter’m Stein, versteckt wie a Stollen voller Gold.
Aber ka Gold drin – viel gefährlicher:
Zigaretten aus der Schweiz, Kaffee aus’m Veltlin, Schnaps aus’m Vinschgau.
Und manchmal – a Flaschenpost mit ’nem Fluch drauf.“

Luggi behauptete, er sei als Bub selbst dort gewesen. Sein Vater – ein berüchtigter Grenzgänger – habe ihn eines Nachts mitgenommen, zwischen Nebelschwaden und leisen Ziegenhufen, hinauf zur geheimen Kammer unter dem Dreiländerstein.

Dort oben, so erzählte er, sei es zugegangen wie beim Großen Freitagmarkt in Meran – nur mit mehr Schatten. Schmuggler mit wallenden Mänteln, Händler mit geheimen Zeichen, Kräuterfrauen mit so vielen Schichten, dass man nie wusste, ob sie alt oder ewig waren. Und dazwischen – Hexen. Echte. Vom Piz Lad herübergekommen, mit glühenden Augen und wehenden Haaren. Sie flüsterten beim Feilschen in Sprachen, die kein Mensch verstand, und lenkten den Wind, als wär’s ein Spielzeug.

Und das Seltsamste?

Der Reschnerhof hat’s gespürt.
Katjas Tante Ottilia hörte abends das Gekicher im Kamin.
Der Onkel Luis kochte mitten in der Nacht Gulasch –
weil’s im Flur nach Knoblauch roch wie beim Schmugglerfest.
Und noch heute, wenn der Wind aus Nordwest weht,
legen sich Nebelschleier über den See,
und wer ganz genau hinhört,
der hört’s wieder:
Das Lachen, das Flüstern, das Klirren.
Und manchmal – ganz selten – ein leises Zischen.
Als würde eine Hexe auf ihrem Besen über die Zirmstube hinwegfegen.


Memory of Mankind – das vergessene Gedächtnis am Stein

Irgendwann, so erzählt man, wurde die Kammer still. Der Schmuggel versiegte, die Händler zogen weiter, die Hexen verschwanden mit dem letzten Sturm. Zurück blieb nur Stille – und etwas anderes: Wissen.

In dieser Kammer lagerte altes, ungesichertes Wissen. Keine Bücher. Nur Fragmente. Namen. Geschichten. Warnungen. Skizzen. Gerüche. Ein Ort für das, was nicht vergessen werden darf – und doch verschwinden muss. Die letzten Eingeweihten nannten es später:

Memory of Mankind.

Doch der Eingang zur Kammer wurde nie wiedergefunden. Vom Wind verweht, vom Gestein verschluckt oder mit Absicht verborgen. Die wenigen, die ihn kannten, nahmen ihr Wissen mit ins Grab.

Nur Luggi sprach noch davon. Und im Reschnerhof

in einem alten, fast vergessenen Schreibkasten in der Zirmstube –
liegen zwei Dinge, die kaum jemand beachtet:

Eine Karte, beschrieben mit seltsamen Zeichen.
Und ein Schlüssel, so alt wie der Reschnerhof selbst.

Katja sagt, er passt zu keinem Zimmer.
Martin behauptet, er klinge beim Fallen wie der Wind oben am Stein.
Und Luggi – oder besser: seine Geschichte – flüstert noch heute:

„Wenn der Nordwind weht und du dich still vor den Reschnerhof stellst,
mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem,
dann hörst du vielleicht das Klicken eines alten Schlosses –
und ganz weit oben am Berg: das Kichern einer Hexe, das Klirren von Gläsern,
und ein Flüstern, das sich anfühlt wie ein uraltes Geheimnis.“

 

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